Clair Obscur: Expedition 33

Clair Obscur: Expedition 33 Titelbild

Clair Obscur -Expedition 33 ist das Erstlingswerk des kleinen französischen Studios Sandfall und schlägt bereits seit einigen Wochen seine Wellen. Auch für mich ist das „westliche JRPG“ ein absoluter Top-Kandidat für mein persönliches Spiel des Jahres. In diesem Test zur PS5-Version verrate ich auch gerne, warum.

Eine Reise durch einen Sturm der Gefühle

Fangen wir bei der Geschichte an. Die bildet den unverkennbaren Kern des Spiels, ist cineastisch absolut stark inszeniert und fantastisch geschrieben. Die Grundprämisse hier in kürze: In einem alternativen Universum, das an Frankreich angelehnt ist und in dem sich Magie und Wissenschaft nicht ausschließen, haben die Menschen mit einer großen Katastrophe, dem sogenannten „Bruch“ zu kämpfen. Dieser hat weite Teile der Welt zerstört und ein Leben außerhalb der Großstadt Lumiere sehr schwer gemacht. Zudem Leiden die Bewohner*innen Lumieres unter der sogenannten „Malerin“.

Clair Obscur: Expedition 33 Monolith© Sandfall Interactive / Kepler Interactive Limited
Bereits der Prolog stimmt auf die tief melancholische Stimmung des Spiels ein.

Die Malerin ist eine gottähnliche Entität, die einmal im Jahr erwacht und eine Zahl auf einen gewaltigen Monolithen malt. Bei diesem Ereignis, das nur als „Gommage“ (Ausradierung) bezeichnet wird, lösen sich alle Menschen, die das entsprechende Alter auf dem Monolithen erreicht haben, in Luft auf. Seit Jahren begeben sich die Menschen, die nur noch ein Jahr zu leben haben, deshalb auf eine Expedition, um sich einen Weg durch die Welt außerhalb Lumieres bis zur Malerin zu bahnen und sie eines Tages aufzuhalten. Wir begleiten den gutherzigen Erfinder Gustave und seine Adoptivschwester Maelle auf die namensgebende Expedition 33.

Clair Obscur: Expedition 33 Expedition© Sandfall Interactive / Kepler Interactive Limited
Wer nichts zu verlieren hat, schließt sich einer Expedition an. Unsere Gruppe besteht aber nur aus ein paar Mitgliedern.

Jedes weitere Wort über die Handlung ist eins zu viel. Doch soviel sei gesagt: Clair Obscur spielt die komplette Klaviatur der Emotionen! Tragik, Melancholie und zuweilen sogar ein bisschen Horror geben sich mit einer absolut liebenswerten Riege an Hauptcharakteren und abstrusem, unverkennbar französischen Humor die Klinke in die Hand. Dabei werden vor allem viele tragische Themen behandelt. Die fügen sich aber komplett natürlich und oft geradezu beiläufig in die Geschichte ein. Zum Beispiel die Frage, ob Kinderwunsch in solch einer Lebensrealität überhaupt sinnvoll ist.

Clair Obscur: Expedition 33 Gustave und Maelle© Sandfall Interactive / Kepler Interactive Limited
Die Mimik der Figuren, wie hier bei Gustave und Maelle, transportiert Emotionen glaubwürdig.

Nach zahlreichen Wendungen die auf die eine oder andere Art unter die Haut gehen und sogar verschiedenen Enden kann ich sagen: Das ist wirklich die wahrscheinlich beste Geschichte, die ich in einem Videospiel bisher erlebt habe. Unabhängig davon, welches Ende schließlich über den Bildschirm flimmert! Alles ist bis ins kleinste Detail durchdacht und funktioniert auf so vielen Ebenen, dass man gar nicht mehr aufhören mag, drüber nachzudenken. Allerdings ist Clair Obscur teilweise auch erschreckend brutal und deshalb definitiv nicht für kleine Kinderaugen bestimmt.

Technik die (nicht immer) begeistert

Man merkt dem Titel zuweilen an, dass hier nicht das ganz große Budget zur Verfügung stand. Außerhalb von Kämpfen sind die Animationen oft steif. Clippingfehler sind keine Seltenheit und Texturen wirken beim näheren hinschauen oft sehr matschig, vor allem in Außenarealen. Zudem meldet sich häufig die typische Unreal Engine 5 Tücke, dass um Haare herum das Bild verwischt. Mich persönlich haben auch die standardmäßig niedrigen FPS in den Zwischensequenzen gestört. All diese Punkte können jedoch nichts daran ändern, dass Clair Obscur jederzeit sehr schön und in seinen besten Momenten absolut fantastisch aussieht.

Clair Obscur: Expedition 33 Wasserwelt© Sandfall Interactive / Kepler Interactive Limited
Das Leveldesign ist eine der ganz großen Stärken von Clair Obscur und täuscht über so manche technische Schwäche hinweg.

Das ist vor allem dem hervorragenden Produktionsdesign zu verdanken. Der Begriff Clair Obscur bezeichnet einen Malstil, der durch helle und dunkle Elemente Tiefenwirkung erzeugt und nach genau diesem Vorbild ist auch die grafische Präsentation der Spielwelt gestaltet. Wunderschöne Lichtstimmungen sind an der Tagesordnung und die magische, aber zerstörte Welt bietet uns regelmäßig atemberaubende Panoramen. Zudem ist die Präsentation sehr detailverliebt. Bekommt eine unserer Figuren im Kampf Treffer ab, ist sie danach von Schmutz, blauen Flecken und Blut übersät – auch nach dem Kampf noch.

Clair Obscur: Expedition 33 Gustave blutig© Sandfall Interactive / Kepler Interactive Limited
Überstrahlendes Licht trifft auf düstere und morbide Umgebungen, das Markenzeichen von Clair Obscur. Dazu gesellen sich Details wie die mehr oder weniger dynamischen Wunden der Charaktere.

Dazu kommt ein schlichtweg grandioser Soundtrack der die Mischung aus melancholischer Stimmung und der gewissen Leichtigkeit perfekt einfängt. Clair Obscur bietet außerdem eine französische und englische Vertonung. Mangels Französischkenntnissen habe ich mich für die englische entschieden und durfte hochklassigen Synchrondarsteller*innen wie Jennifer English (Shadowheart aus Baldurs Gate 3) und sogar Hollywoodschauspieler Andy Serkis lauschen. Tatsächlich machen aber alle Sprecher*innen einen grandiosen Job. Und auch sonst ist das Sounddesign wirklich on Point und sogar für das Kampfsystem relevant.

Nur das Beste vom Kampfbuffet

Das rundenbasierte Kampsystem ist die zweite große Stärke von Clair Obscur. Dabei picken sich die Entwickler das Beste aus verschiedenen JRPG-Größen der Vergangenheit heraus und fügen alles zu einem spaßigen und packenden Mix zusammen. Wie in Final Fantasy X sehen wir am Rand stets, wann welcher Charakter an der Reihe ist und können darauf auch mit bestimmten Fähigkeiten Einfluss nehmen. Das stylische Kampfmenü ist quasi eins zu eins von Persona 5 übernommen, ebenso wie die Schussmechanik, die uns aber zusätzlich erlaubt, diverse Schwachstellen von Gegnern ins Visier zu nehmen.

Clair Obscur: Expedition 33 Kampfbildschirm© Sandfall Interactive / Kepler Interactive Limited
Alle unsere Kämpfer*innen haben Ihre eigene Kampfmechanik. Das Menü ist dabei super aufgeräumt und Eingängig zu bedienen.

Wie in diversen anderen JRPGs bauen wir während des Kampfes Aktionspunkte auf, die wir für mächtige Fähigkeiten verbrauchen. Je stärker die Attacke, desto teurer. Dabei haben viele Angriffe auch Nebeneffekte, die sich oft sogar zu sinnvollen Kombos kombinieren lassen. Damit herum zu tüfteln macht Spaß. Im Gegensatz zu den Animationen außerhalb der Kämpfe sind die Angriffe der Expedition 33 aber durchweg grandios in Szene gesetzt und vermitteln auf befriedigende Weise die Power, mit der wir auf unsere Feinde eindreschen.

Der letzte Treffer wir stets von einem herrlichen Photofinish begleitet. Damit wir das volle Potential unserer Attacken nutzen können, müssen wir – wie in der Shadow Hearts Reihe – kleine Quicktime-Events lösen, die aber pro Skill stets gleich sind und schnell in Fleisch und Blut übergehen.

Clair Obscur: Expedition 33 Quicktime Event© Sandfall Interactive / Kepler Interactive Limited
Die Quicktime Events sind relativ unspektulär und lenken leider etwas von der Action ab, halten aber die Konzentration und damit den Flow aufrecht.

Werden wir allerdings angegriffen, müssen wir ebenfalls aktiv mit gutem Timing ausweichen oder parieren. Das läuft nicht über Quicktime-Events, sondern fordert von uns, die Bewegungen und Geräusche unserer Gegner zu beobachten, zu lernen und den passenden Rhythmus zu finden. Im Grunde so, wie es die Mario & Luigi Spiele seit geraumer Zeit tun, nur, dass wir hier weniger mit Reflexen ausrichten können und wirklich die Muster der Feinde lernen müssen.

Clair Obscur: Expedition 33 Maelle Attacke© Sandfall Interactive / Kepler Interactive Limited
Die Angriffe unseres Teams sind super stylisch animiert.

Unser Fenster ist dabei ziemlich klein, beim Parieren sogar noch enger. Schaffen wir es aber, jeden Angriff einer Kombo zu parieren, kontern unsere Kämpfer*innen mit einem brachialen Gegenangriff, der normale Gegner auch gerne mal one-shot besiegt. Die Manöver der Gegner zu meistern fühlt sich dadurch unheimlich befriedigend und motivierend an und schafft auch bei zunächst überlegenen Gegnern ein „Ich kann das schaffen!“-Gefühl.

Clair Obscur: Expedition 33 Konter© Sandfall Interactive / Kepler Interactive Limited
Die Konter unserer Crew knallen ordentlich rein und tun unseren Feinden richtig weh.

Clair Obscur bietet dabei verschiedene Schwierigkeitsgrade, die wir jederzeit wechseln können. Aber auch im „Story-Modus“ sollte man das Ausweichen und Kontern nicht komplett vernachlässigen, da sonst viel von der Faszination des Kampfsystems verloren geht.

Das Charaktersystem – hier steckt die Innovation!

Das Kampfsystem ist also nicht ganz so innovativ, wie es derzeit gerne mal angepriesen wird, macht aber schlichtweg unheimlich Spaß und fühlt sich nach etwas Eingewöhnung einfach gut an. Wirklich einzigartig wird Clair Obscur bei der Charakterentwicklung. Die stützt sich auf verschiedene Säulen:

Clair Obscur: Expedition 33 Siegbildschirm© Sandfall Interactive / Kepler Interactive Limited
Selten hat sich etwas in einem Videospiel so gut angefühlt, wie Gegner mit einem satten Knall zu verabschieden und davon noch ein Siegfoto zu bekommen.

Erstens leveln wir unsere Gruppe ganz klassisch auf und dürfen pro Level drei Attributspunkte auf die fünf Attribute Gesundheit, Stärke, Geschwindigkeit, Verteidigung und Glück (Krit. Chance) verteilen. Worauf wir am besten unsere Punkte verteilen hängt aber maßgeblich von unserer geführten Waffe ab. Die hat nämlich jeweils zwei Attribute, die sie besonders fördert bei ausgegebenen Punkten auch andere Werte mit erhöht.

Andersherum zieht die Waffe mehr Schaden aus hohen Werten bei den entsprechenden Attributen. Ändert sich die Waffe, verteilen wir also von dort an unsere Punkte anders als zuvor. Scheint eine Figur für eine neue Waffe hoffnungslos verskillt, bekommen wir viele Items, mit denen wir Punkte neu verteilen dürfen. Ich habe das aber tatsächlich zu keiner Zeit gebraucht. Zusätzlich bekommen wir Fertigkeitenpunkte, um neue Fertigkeiten zu lernen.

Clair Obscur: Expedition 33 Skilltree© Sandfall Interactive / Kepler Interactive Limited
Die Skilltrees der Fertigkeiten sind simpel gehalten. Rechts oben seht Ihr die Attributswerte und mit welchem Rang sie von der Waffe gefördert werden.

Zweitens haben die Waffen selbst bis zu drei passive Fähigkeiten, die unsere Taktik im Kampf entweder begünstigen können oder sogar das Fundament für einen Taktik legen können. Da wir Waffen im Spielverlauf ebenfalls aufleveln können, bieten uns die Waffen die Möglichkeit, unsere Charaktere an unsere Wünsche anzupassen oder sie eine festen Stil kämpfen zu lassen, ohne, dass ein Charakter in eine bestimmte Rolle gedrängt würde.

Drittens sammeln wir im Spielverlauf sogenannte Pictos, von denen wir jeweils drei zugleich einem Charakter zuweisen können. Pictos verstärken bis zu zwei verschiedene Attribute teils enorm und bieten einen passiven Effekt, mit dem wir unsere Waffenfähigkeiten und Skills mitunter dramatisch ergänzen können. Haben wir Pictos in vier erfolgreichen Kämpfen ausgerüstet, bekommen wir die Fähigkeit des Pictos (ohne den Werteboost) als Lumina freigeschaltet. Luminas können wir dann wiederum mit Luminapunkten auch für den Rest der Gruppe ausrüsten. Es lohnt sich also, neue Pictos auszurüsten, was immer wieder für neue Dynamiken in den Kämpfen sorgt.

Clair Obscur: Expedition 33 Pictos© Sandfall Interactive / Kepler Interactive Limited
Das Picto-System ist das Alleinstellungsmerkmal von Clair Obscur und zentraler Punkt der Charakterentwicklung.

Das Charaktersystem fühlt sich wirklich frisch an und motiviert, sich damit zu beschäftigen, da es spürbare Auswirkungen im Kampf hat. Besonders die Pictos sind eben nicht einfach nur sich erhöhende Zahlen, sondern verändern die Kampfbedingungen teils grundlegend und können manchmal sogar den unterschied machen, ob wir einen Feind schlagen, oder nicht.

Wie lang geht die Expedition 33?

Und Pictos bekommen wir wirklich zuhauf. Nahezu jeder Kampf gibt uns sinnvolle Belohnungen, entweder in Form der Pictos oder als Luminapunkte, die wir auf unsere Crew verteilen können. Und zwar unabhängig davon, ob auf der Oberweltkarte oder in den schicken Gebieten. So ergibt sich ratzfatz ein süchtig machender Gameplay-Loop, der nicht mehr loslässt. Die Umgebungen sind zwar nicht offen, aber teils sehr Labyrinthartig aufgebaut. Erkunden lohnt sich, da in jeder Sackgasse ebenfalls Belohnungen oder versteckte Gegner warten. Weil wir aber keinerlei Minimap (!!) zur Verfügung haben, kann man sich in den Arealen schon mal ziemlich krass verlaufen. Das kann echt nerven!

Clair Obscur: Expedition 33 Roter Wald© Sandfall Interactive / Kepler Interactive Limited
Die Umgebungen sind teils recht weitläufig und verwinkelt und laden zum Erkunden ein.

Die Spielzeit von Clair Obscur teil sich auf drei Akte auf, die Hauptgeschichte lässt sich in gut 30 Stunden durchspielen. Allerdings gibt es, besonders im dritten Akt, noch eine Menge optionale Bosse zu legen und Geheimnisse zu finden. Selbst ergänzende Story-Fetzen lassen sich noch sammeln. Wer wirklich alles wissen will, sammelt die versteckten Tagebücher alter Expeditionen und Musikstücke für den Plattenspieler im Lager. Ein vollständiger Run kann gut und gerne 60 bis 80 Stunden dauern. Wer (wie ich) auch dann noch nicht genug von Clair Obscur hat, darf ein New Game+ starten. Man bekommt also mehr als genug Spiel fürs Geld.

Clair Obscur: Expedition 33 Oberweltkarte© Sandfall Interactive / Kepler Interactive Limited
Auch die Miniaturland-artige Oberweltkarte hat Geheimnisse preiszugeben.

Fazit: 9/10

Nachdem ich alle Enden von Clair Obscur gesehen und mich an diesen Test gesetzt hatte, fiel es mir schwer, die Essenz des Spiels knapp zusammenzufassen. Je länger ich drüber nachdachte, umso präsenter wurde die Frage in meinem Kopf: Was ist Clair Obscur eigentlich nicht?

Clair Obscur ist ein JRPG, etwas soulslike, auch ein klitzekleines bisschen Jump ’n Run und ein Rhythmusspiel. Es ist ein Märchen, Drama und eine Charakterstudie. Clair Obscur ist lustig, warmherzig, spannend und unendlich traurig. Dazu ist es noch so viele andere Dinge, die ich nicht aufzuschreiben wage, weil ich sonst zu viel vorwegnehme. Fakt ist aber, dass ich selten ein Spiel erlebt habe, das so vielschichtig, so durchdacht ist; bei dem einfach JEDES Element so gut ins nächste greift und aufs große Ganze einzahlt.

Clair Obscur: Expedition 33 Jump 'n Run Turm
Optional gibt’s auch mal Passagen wie diesen Jump ’n Run Turm, der an das Spiel „Only Up“ erinnert.

Ob Ihr mit Clair Obscur Spaß habt hängt im Grunde nur von zwei Fragen ab: Ob Ihr Euch mit dem rhythmusbasierten Kampfsystem anfreunden könnt und ob Ihr Euch für tiefgründige Geschichten begeistert, die Ihre Facetten erst nach und nach offenlegen und eben nicht nur für gute Gefühle sorgen. Denn leichte Kost zum Hirn abschalten ist Clair Obscur so gut wie nie. Wenn diese beiden Punkte zutreffen, dann stehen Euch mindestens 30 Stunden Spaß in einer außergewöhnlichen Spielwelt mit einem packenden und motivierenden Kampf- und Charaktersystem bevor. Die kleinen technischen Macken oder gelegentlichen Frust bei der Erkundung vergibt man diesem Kunstwerk nur zu gerne.

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