Mit Lost Records: Bloom & Rage hat sich das französische Studio Dontnod zurückgemeldet und bleibt seiner Formel aus den Life is Strange Spielen treu. Diesmal hat unsere Spielfigur jedoch keinerlei Spezialkräfte, was letztlich auch der Hauptgrund dafür ist, dass sich der Titel nur im Mittelfeld des Studioportfolios einreihen kann. Ob Lost Records: Bloom & Rage trotzdem für Euch interessant sein kann, erfahrt Ihr im Folgenden.
Kinder der 90er
Die Geschichte dreht sich um die Freundinnen Swan, Kat, Nora und Autumn, die sich nach einem zunächst unbekannten Vorfall viele Jahre nicht gesehen haben. Ein seltsames Paket, adressiert an ihre ehemalige Garagenband namens Bloom & Rage, sorgt schließlich dafür, dass sie sich wieder in ihrem Heimatdorf im Norden der USA versammeln. Bei Geschichte und Inszenierung hat sich Dontnod ganz eindeutig an Stephen King’s ES orientiert. Genau wie dort blenden wir regelmäßig in die 90er-Jahre zurück und erleben, wie die vier ungleichen Mädchen im Sommer ihres Lebens zu Freundinnen werden und schließlich auf die mysteriösen Ereignisse zusteuern, die zu ihrem Kontaktabbruch geführt haben.
In der Gegenwart erfahren wir mehr über die Gefühlswelt unserer Heldinnen und wie sich die Ereignisse von damals auf ihr Leben ausgewirkt haben. Leider sind die regelmäßigen Intermezzos nach einer Weile schon etwas lästig, da sie die Handlung im Grunde nie voranbringen. Dafür macht es Spaß, den Mädchen in der Vergangenheit zuzusehen, wie sie von Fremden zu besten Freundinnen werden, denn Lost Records: Bloom & Rage ist durchaus mit Herz erzählt.
Leider lebt die Handlung fast ausschließlich von der Sympathie für die Hauptfiguren. Der Kern der Geschichte passt auf einen Bierdeckel und die meisten Ereignisse sind allein zur Charakterbildung da. Der „Bösewicht“ bleibt überwiegend blass und ist inkonsistent geschrieben. Manchmal lässt er einen Funken Menschlichkeit durchscheinen, nur um den Rest der Handlung doch scheinbar grundlos abgrundtief böse zu sein. Ab dem zweiten Drittel kommt auch eine mystische Komponente ins Spiel, die weder erklärt noch jemals befriedigend aufgelöst wird. Ist einfach da, muss man akzeptieren. Mir persönlich hat das ein Stück weit die Erfahrung verwässert; vor allem, da die Charaktere so gründlich aufgebaut werden.
Die Schwächen im Pacing der Geschichte fallen vor allem auch deshalb so sehr auf und ins Gewicht, weil das Gameplay bei Lost Records: Bloom & Rage noch rudimentärer ausfällt als bei seinen Vorgängern im Geiste. Wir spielen in beiden Zeitebenen ausschließlich die schüchterne und nerdige Swan. Wir untersuchen unsere Umgebungen, sammeln Gegenstände oder aktivieren bestimmte Schalter. Die Interaktion mit der Spielwelt ist teils sogar wirklich cool umgesetzt.
Darüber hinaus besteht ein Großteil des Spiels daraus, Dinge mit unserem Camcorder zu filmen. Das entpuppt sich leider als ziemlich stumpf und spielerisch schlicht langweilig. Zwar können wir die gefilmten Schnipsel anschließend bearbeiten und zu kompletten Clips zusammenfügen, aber es gibt schlicht keinen Grund dazu. Wir bekommen keine Boni dafür und die kurzen Clips geben einfach niemals hochwertiges Material her. Das Plus an Immersion hätte Dontnod besser für mehr Spielspaß geopfert.
Die zweite große Gameplaysäule sind die Gespräche, die im Vergleich zu den meisten anderen Games ziemlich natürlich umgesetzt sind. Ähnlich wie bei den Adventure-Games Oxenfree läuft in Gesprächen nämlich stehts die Zeit weiter. Wir haben nur ein begrenztes Fenster, um eine Antwort zu wählen und müssen oft schon beim Zuhören überlegen, was wir später sagen möchten. Wir können aber genauso gut schweigen, was ebenfalls von unserem Gegenüber zur Kenntnis genommen wird.
Manchmal werden Antwortmöglichkeiten auch erst freigeschaltet, wenn wir unsere Gesprächspartner*innen eine Weile quatschen lassen. Genauso können wir Antworten frühzeitig geben und anderen ins Wort fallen. Das ist Timing-technisch wesentlich besser gelungen als bei Oxenfree und sorgt mitunter für wirklich realistischen Redefluss. Dazu trägt auch das starke Synchronensemble bei.
Dazu beeinflussen unsere Handlungen und vor allem Gespräche Swans Beziehungen zu den anderen Mädchen und diverse Ereignisse, was schließlich in einem von vielen verschiedenen Enden resultiert. Tatsächlich kam mir persönlich der Entscheidungsverlauf wesentlich schwerwiegender vor als in der Life is Strange Reihe. Auch wenn der Grundverlauf der Handlung – mal wieder – unabänderlich bliebt, können die Abschlüsse doch von rührend über tragisch bis verstörend ein großes Spektrum an Emotionen abdecken. Wer den zähen Spielfluss verzeihen kann, findet hier durchaus Motivation für erneute Spieldurchläufe, zumal wir Kapitel später auch einzeln anwählen können.
Ein bisschen mehr Post-Production hätte nicht geschadet
Grafisch gibt sich Lost Records: Bloom & Rage wirklich solide. Umwelt und Charaktere sind schick modelliert und fangen den Geist ihrer Zeit ein. Vor allem die Lichtsetzung weiß den ein oder anderen seligen Seufzer zu entlocken. Punktabzug gibt’s aber wiederum für die teils sehr fransigen Schatten und die – vor allem nach Zwischensequenzen – oft sehr spät nachladenden Texturen. Auch die Lippensynchronität und generell die Mimik in den Gesprächen hätten noch etwas Feinschliff vertragen können. Gerade bei einem so zentralen Element ist es einfach schade, dass hier wohl am Ende die Zeit oder das Budget knapp wurde. Denn gerade die Zwischensequenzen zeigen, wie es besser geht.
Wer von der Life is Strange Formel auch nach dem noch gar nicht so alten Double Exposure noch nicht genug hat, der darf Lost Records: Bloom & Rage gerne eine Chance geben. 90er Nostalgiekeule, ein gewohnt verträumter Soundtrack und Kameraeinstellungen mit Poster-Charakter lassen das gewohnte Gefühl direkt wieder aufleben. Wer sich für die herzerwärmende Freundschaftsgeschichte begeistern kann, sieht vielleicht auch wohlwollend über das auf Dauer sehr zähe Spieltempo und diverse Löcher im Plot hinweg. Letztlich fehlt aber einfach das Gefühl zu wissen, worauf diese Geschichte eigentlich hinaus will.
Gameplay technisch dürft Ihr ebenfalls niemals zu viel erwarten. Mehr als einen Walking Simulator mit ab und zu mal Kamera auf vorgegebene Stellen halten bekommt Ihr hier nicht. Das spannendste Element sind noch die dynamischen Gespräche, die zwar hervorragenden Charakteraufbau betreiben, aber eben auch oft nicht so wirklich zum Punkt kommen.
Mit einer Spielzeit von gut 12 Stunden für den ersten Durchlauf fällt Lost Records: Bloom & Rage recht kompakt aus. Doch gerade der für diese Art von Spiel so wichtige Wiederspielwert hat – zumindest bei mir – durch die Schwächen des Spiels sehr gelitten. Obwohl die Einflussmöglichkeiten auf die Geschichte so hoch scheinen wie selten bei Dontnod. Letztendlich bleibt ein für Fans solides Spiel übrig, das aber leider unter seinen Möglichkeiten bleibt.
Spielte Videospiele, noch bevor er Fahrrad fahren konnte. Hat als einer der letzten Zivis den Gedanken an ein Medizinstudium verworfen und stattdessen „irgendwas mit Medien“ in der Weltmetropole Ilmenau im beschaulichen Thüringer Wald studiert. Über das Campus-TV schließlich den Weg eines (Video-) Redakteurs eingeschlagen und 4 Jahre lang im Esports-Bereich gearbeitet. Danach gings ins lineare Fernsehen, dann auf die andere Seite des Spektrums in die PR und schließlich zum Reisemagazin von Urlaubstracker. Weil es ihm aber beim Thema Gaming und anderer medialer Unterhaltungskunst immer noch 24/7 in den Fingern juckt, gibt es jetzt, wann immer es die Freizeit zulässt, Reviews und Previews von ihm.